Im Internet ist alles möglich. Das wissen wir spätestens seit
dem Juni 2013, als die britische Zeitung «The Guardian» erstmals über
die
Überwachungstätigkeit des amerikanischen Geheimdienstes NSA
berichtete und über Edward Snowden. Bis dahin hatten wir geglaubt, die
Entwicklung der digitalen Technologie bringe mehr Freiheit, und
begriffen dies als Zukunft. Heute ist uns klar, von wie vielen Seiten
wir überwacht, beobachtet, durchleuchtet werden.
«Es sind die
Sonnen der Dateninterpreten von Google, Facebook, Amazon, Apple und Co.,
die uns bescheinen», schreibt die Kommunikationswissenschafterin Miriam
Meckel in ihrem Buch «Wir verschwinden». Multiple Sonnen,
allgegenwärtig und unabhängig von Tages- und Nachtzeiten, die unsere
Pfade in der materiellen und digitalen Welt bestrahlen, so dass alle
wissen, welche Spuren wir zurückgelassen haben.
Schattenplatz im Cyberspace
Doch
wie überall auf der Welt gibt es auch im Netz Orte, die für die
Strahlen der Sonne unerreichbar bleiben. Das Deep Web – ein
Schattenplatz im Cyberspace. Mit immer mehr Menschen, die das Licht der
Sonne meiden und dorthin flüchten, wo sie unbeobachtet sein können. Weil
vielen langsam klarwird, was es alles zu verbergen gibt.
Ein solcher Mensch ist Jonas. Jonas,
in seinen Zwanzigern, ging ins Deep Web, um Drogen zu kaufen. Weiss
Bescheid, wie man eben Bescheid weiss, wenn man durch solche Abgründe
streift, sich auf virtuelle Märkte begibt, an denen nicht frisches
Gemüse und Obst feilgeboten werden, sondern: Ketamin, Kalaschnikows,
Kinderpornografie. Spricht über die Orte mit dem Wissen um die Freiheit
der Anonymität, Reisebegleiter durch diese Welt. Eine andere Welt.
Welche
Dimensionen diese Schattenwelt hat, ist kaum zu ermessen. Es gibt
Quellen, die sprechen von einer Grösse zwischen 30 und 50 Prozent des
gesamten Internets; andere davon, dass es bis zu 400 Mal so gross sei
wie das uns vertraute Netz.
Um diese Welt zu erkunden, brauchen
Menschen wie Jonas einen Schlüssel: den Tor-Browser, ein
Anonymisierungsprotokoll, das sich schnell und unkompliziert
installieren lässt. Damit greift man nicht direkt auf eine Website zu,
sondern wird mit jeder Eingabe über andere Rechner umgeleitet, die
sämtliche Anfragen erneut verschlüsseln. Während man sonst im Internet
überall digitale Spuren hinterlässt, bleibt man hier anonym.
Das
Tor-Projekt ist ein grosses Anonymitätsnetzwerk. Es wurde Anfang der
2000er Jahre von der US Navy entwickelt, um die eigene Kommunikation zu
schützen. Heute wird Tor durch Spenden finanziert. Es soll vor allem
Journalisten und Whistleblowern ermöglichen, sicher über Quellen zu
reden. Aktivistengruppen nutzen es, Dissidenten bewahrt es vor
Verfolgung. Die Tor-Macher sagen über ihr Projekt: «Wir brauchen solche
Software, um uns vor der Analyse der Verbindungsdaten zu schützen, die
genaue Rückschlüsse darauf zulassen, wer wir sind, mit wem wir reden und
wie wir uns verhalten.» Wir kommen also zu einem Punkt, an dem uns
keine Behörde mehr sehen kann; wo niemand mehr weiss, wer wir sind und
woher wir kommen. «Die Geheimdienste sind sehr unglücklich, dass sie uns
nicht knacken können. Das wiederum macht uns sehr glücklich», sagen die
Leute von Tor.
Weit weg von Gesetzen
Die Navigation im
Deep Web ist komplex. Hier hilft kein Google, kein Yahoo, kein anderer
Suchdienst. Lediglich Verzeichnisdienste, die aussehen wie Webseiten aus
den 1990er Jahren, bieten einen Überblick. Ein solcher ist das
«HiddenWiki»; dort befinden sich Hunderte von Links, sortiert nach
Kategorien: «Activism», «Erotica», «Drugs», «Weapons».
Viele
tauschen hier, im Schatten der Sonne, weit weg von den Augen der
Polizei, gefälschte Dokumente, Drogen, Waffen, Kinderpornografie. Andere
bieten ihre Dienste als Auftragskiller an.
Die Macher von Tor
sagen dazu: «Tor gibt uns unsere Privatsphäre zurück. Wir sollten damit
keinen Unsinn machen, keine Straftaten begehen, sondern nur freier leben
und reden können. Es soll uns schützen, wenn wir Schutz brauchen. Aber
wie alles im Leben kann eine Technik auch ausgenutzt werden. Daran ist
nicht die Technik, sondern der Mensch schuld, der sie bedient. Der die
Straftat begeht und sie vermutlich auch so begangen hätte.»
Ein solcher Mensch ist Jonas. Jonas
wohnt in einer Schweizer Stadt und stammt aus einem Ort, an dem die Öde
den Jugendlichen nicht bereits die Köpfe mit Blödsinn füllte. Drogen,
sagt er, hätten ihn nicht so sehr interessiert. Aber das Technische. Das
Deep Web und Bitcoins, eine virtuelle Währung, mit der dort bezahlt
wird, auch eine Zahlung damit kaum zurückzuverfolgen, das wollte er
ausprobieren. Und später, in einer Gruppe von Freunden, junge Erwachsene
noch, die möglichst viel erleben wollten, wuchs das Verlangen, einmal
LSD zu probieren. Einen Dealer kannte Jonas nicht, also schaute er im
Netz.
Er landete im Deep Web und bog dabei um so viele Ecken, bis
er einen möglichen Drogenfahnder abgeschüttelt hatte. Jonas musste nie
zu den Drogen. Die Drogen, LSD für die Halluzinationen, MDMA für die
Euphorie, kamen zu ihm. Mit
der Post,
meistens aus den Niederlanden, in Couverts, sauber verpackt, getarnt
als persönlicher Brief. Ein Rausch im C5/C6-Format. Unerkannt brach er
Regeln. Nicht im Dunkel der Klubs, nicht im Dunkel einer Gasse. Eine
Dealerei in den Abgründen des Netzes. An der «Silk Road», der
Seidenstrasse, die
mittlerweile geschlossen ist, ein Online-Versandhandel, ähnlich denen von Amazon oder Ricardo, aber: ein
Markt für Drogen. Anonym. Versteckspiel und Schatzsuche für erwachsene Menschen.
Ein solcher Mensch war Jonas. Er
kauft heute keine Drogen mehr, konsumiert sie nicht einmal mehr. Die
letzte Schatzsuche, sie ist lange her. Vor anderthalb Jahren wurde am
Zoll in Basel ein Brief abgefangen. Vielleicht Zufall, vielleicht nicht.
Dann Polizei, Hausdurchsuchung, Verhör und Drogentest. Jonas hatte, von
der letzten Bestellung, noch eine kleine Menge Drogen in seiner
Wohnung. Schliesslich Fahrausweisentzug auf Zeit, eine Busse wegen
Übertretens des Betäubungsmittelgesetzes. Noch einmal glimpflich
davongekommen. Trotzdem sagt er: «Alles im Deep Web ist sehr sicher und
anonym. Ich hatte einfach Pech.» Wäre er in der physischen Welt nicht
aufgeflogen, man hätte seine Identität wahrscheinlich nie
herausgefunden.
Türe schliessen – auch im Netz
Auch wenn
wir keine kriminellen Hintergedanken haben: Das Recht auf Anonymität
ist selbstverständlich. Werden wir also bald alle gänzlich anonym sein
wollen? Oder flüchten wir auch in Zukunft in den Fatalismus und
verschlüsseln unser Tun im Netz nicht, weil wir die Überwachung der
Geheimdienste ja sowieso nicht sehen?
Im Buch «
Deep Web – Die dunkle Seite des Internets» schreibt der anonyme Autor, dass wir uns
künftig mit unserem Verhalten im Netz beschäftigen müssten. Dass wir uns
fragen müssten, warum wir im echten Leben die Tür hinter uns
schliessen, wenn wir auf die Toilette gehen. Und warum wir das im
Internet nicht tun. Warum wir im persönlichen Gespräch nicht von unseren
Mängeln und Schwächen erzählen, für die wir uns schämen, genau diese
aber im Netz, auf Facebook und Twitter, mit allen bereitwillig teilen.
Denn wir sollten uns dort nicht länger so bewegen, als wäre das Netz ein
anonymer, freier und utopischer Ort – wie der, an den man nur gelangt,
wenn man den Zugang kennt.